Der schiefe Glockenturm

Die Sage vom Stresendorfer Glockenturm konnten frühere Generationen mecklenburgische Kinder in ihren Schulbüchern nachlesen. Wer kennt sie außer den Stresendorfern heute noch? Die beiden Glocken trugen die Jahreszahlen 1518 und 1544. Von ihnen überdauerte nur einer die Zeiten. Der gut erhaltene und seit langem Gedenken schiefe Glockenturm stellt eine besondere Sehenswürdigkeit dar.
Wenn sich nun auch noch nach der Jahrhundertwende die Spitze mit der Wetterfahne zur Seite neigt, so „sall dat Korl Klatten sein Ganter dan hewwen (soll das Karl Klatten Ganter getan haben)“, der dagegen geflogen war.
Hinter dem großen und tiefen Wald, der Stresendorf im Westen umgibt, liegt das kleine Menzendorf. Es gehörte zuletzt einem von Treuenfels. Das ist vor Zeiten ein großer und blühender Ort mit einer stattlichen Kirche gewesen. Nach dem Dreißigjährigem Kriege aber standen nur noch wenige Häuser, eben so viel, wie man heute sieht. Alles andere versank in Schutt und Asche. Über die verwüsteten Stätten wuchs Gras, auch da, wo die herrliche Kirche gestanden hatte.
Die Geschichte weiß von alledem nichts. Hier ist der Boden für die Sage, die in den Herzen der Menschen weiterlebt, die die Väter den Kindern und diese einst wieder ihren Nachkommen überliefern.
Die Glocken des Menzendorfer Gotteshauses waren nicht auf schwedische Art verwertet; wo sie geblieben, wusste niemand, die es wohl gewusst hatten, waren tot. Nach Jahr und Tag weideten Bewohner von Herzfeld und Stresendorf ihr Vieh an der Stätte, wo einst das verschwundene Dorf gelegen haben soll. Hirtenjungen, die Tünnel spielten, hörten von der Erde her, wo der Tünnel anstieß, ein feines Klingen. Sie liefen hinzu und fanden beim Scharren eine Glocke und bald nicht weit davon in der Erde eine zweite. Die Freude über den Fund war groß. Sie berichteten schleunigst darüber nach ihren Dörfern, wo natürlich die Größe der Glocken stark übertrieben wurde. Herzfeld lag am nächsten und erfuhr zuerst davon. Ein Wagen wurde mit vier kräftigen Gäulen bespannt. In vollem Jagen erreichte man die Fundstätte und freute sich laut lärmend, dass man den Stresendorfern zuvorgekommen war. Aber in Herzfeld wohnten gottlose Leute, und der Knecht, der das Gespann lenkte, war einer davon. Er fluchte nach Gewohnheit auch bei dieser Gelegenheit. Als die Glocken aufgeladen waren, knallte er übermütig mit der Peitsche und suchte in Dreiteufelsnamen die Pferde zur Eile anzutreiben. Das hätte er bleiben lassen sollen. Die Gäule rissen und zerrten an den Strängen, dass ihnen der Schaum kam. Das Gefährt aber war nicht von der Stelle zu bringen, soviel auch der Kutscher wetterte. Die Glocken mussten wieder abgeladen werden. Natürlich konnte sich niemand diesen Vorgang erklären. Alle standen ratlos da. Inzwischen kamen die Stresendorfer an. Sie brachten einen leichten Bretterwagen mit, den zwei schwerfällige Ochsen zogen. Man ließ die Stresendorfer ruhig gewähren, als sie die Glocken aufluden. Man wusste ja schon, wie es ihnen gehen würde. Mit dem metallenen Fund war es nicht ganz geheuer. Die Stresendorfer waren jedoch fromme Leute, und auch der Fuhrknecht waltete seines Amtes als guter Christ. Bedächtig setzte er sich auf den Wagen und wünschte sich glückliche Fahrt in Gottes Namen. Welch Wunder! Ohne Anstrengung zogen die beiden Ochsen die teure Last heimwärts. Da machten die Herzfelder die Nase lang. Die Stresendorfer aber wussten sich vor Glück kaum zu fassen.
In aller Eile musste der Glockenturm gebaut werden. Er ist auch danach geworden. Aber was schadet das, es ist doch ein Turm und somit eine würde Stätte für Glocken, die nun mal in einen Turm gehören. Und als das erste Läuten über die Straße, den Teich, die zerfallenen Felsenmauern, in die alten Bauernhäuser und weiter über Feld und Wald klang, da lag tiefe Andacht rings umher auf allem.
So ist Stresendorf zu seinem Glockenturm gekommen. Auch wenn er in der Eile etwas schief geraten ist, ändert das nichts an der Sache.

Autor: Burghard Keuthe, Parchimer Sagen

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