Die fromme Nonne

Dort, wo sich jetzt der Neustädter See befindet, ragte einst ein Kloster empor und drumherum lag der kleine Ort Glewe. Die Bürger, Mönche und Nonnen lebten in Frömmigkeit, bewahrten Tugend und Moral und waren selig. Die Glocken hoch oben im Glockenturm läuteten weithin schallend, als würden sie ob der braven Leute von Glewe frohlocken. So verwundert es nicht, dass das Kloster und der kleine Ort Glewe auch andernorts bekannt wurde und viele Menschen in Scharen dorthin pilgerten, um ihre Seelen von der Sünde zu reinigen und sich ihrem Glauben hinzugeben. Daher wuchsen der Wohlstand und die Pracht des Klosters immer mehr und es kam, wie es kommen musste. Denn das Herz des Menschen ist trügerisch und schwach. Mit dem steigenden Reichtum wurden die Bürger von Glewe, die Mönche und Nonnen nicht nur gierig, sie versündigten sich auch zunehmend, indem sie ausschweifende Saufgelage feierten, kokettierten und kopulierten und alle Keuschheit und Moral vergaßen.
Unter ihnen ward eine junge Nonne, die mit großer Sorge beobachtete, wie der einst so fromme und selige Ort verkommt zu einem Pfuhl aus Sünde und Begierde. Sie betete und sang andächtige Lieder und bat unaufhaltsam um Vergebung für die Sünden der Bürger zu Glewe, der Mönche und Nonnen. Sie selbst aber blieb rein und tugendhaft, tat ihr Tagwerk, arbeitete brav im Klostergarten, pflegte die Kranken und vollbrachte viel Gutes. Bei jedem Schlag der Glocken betete sie für das Seelenheil der anderen und sang ihre frommen Lieder aus vollem Herzen. Doch die Bürger, Mönche und Nonnen hörten nicht auf, sich zu versündigen und frönten den weltlichen Verlockungen.
Eines Tages wurde der jungen Nonne ein verletzter Jüngling gebracht, den sie gesund pflegen sollte. Oh, wie schön ward dieser Jüngling anzusehen: hochgewachsen, von stattlicher Gestalt und mit einem so ebenmäßigen Gesicht, dass es eine helle Freude war, ihn zu betrachten. Die junge Nonne kümmerte sich hingebungsvoll um den Jüngling und tat, was sie konnte, um seine Wunden zu heilen. Und noch immer betete sie bei jedem Glockenschlag für das Seelenheil der Bürger zu Glewe, der Mönche und Nonnen. Doch mit der Zeit veränderte sich etwas in ihr. In ihren Gedanken kreiste nur noch dieser Jüngling und sie spürte eine sonderbare Wärme in ihrem Herzen. Schon bald kam der gutaussehende Jüngling wieder zu Kräften und auch er war sehr angetan von der jungen Nonne, denn ihre weite Kutte konnte ihre Schönheit nicht gänzlich verbergen. Die beiden verbrachten immer mehr Zeit miteinander, flanierten im Klostergarten, flüsterten und kicherten. Und, während der Jüngling sich mehr und mehr zu nähern suchte, blieb die junge Nonne standhaft, auch wenn es ihr schwerfiel. Drum betete sie noch häufiger, nicht nur um der anderen willen, sondern auch für sich selbst und gegen ihre eigene Begierde. Es wart ihr sogar, als würden die Glocken längst nicht mehr frohlocken, sondern mahnend ihren Leib erschüttern.
Doch es half alles nichts. Der Jüngling umwarb sie beharrlich, nahm schließlich ihre Hand, zog ihren Leib zu sich heran, küsste sie auf die Stirn, dann auf ihre sich errötende Wange und schließlich auf ihre zarten, zitternden Lippen und die Nonne ließ es zu. Sie sank in seine Arme und vergaß ihre Frömmigkeit. Sie spürte nur noch ein tiefes Verlangen nach ihm, dem schönen, hochgewachsenen Jüngling. Noch trunken vor Glück in diesem einen flüchtigen Augenblick, da geschah es plötzlich, das Unheilvolle. Gottes Zorn kam über das Kloster und den kleinen Ort Glewe, denn nun hatte sich auch die letzte redliche Person, die junge Nonne, versündigt. Der Himmel verdunkelte sich, es donnerte und blitzte, der Boden riss auf und das Kloster und alle Gebäude darum begannen herabzusinken. Das Wasser prasselte von oben hernieder und stieg von unten durch die Risse im Erdboden empor. Die Nonne erschrak über das, was sie getan hatte, entfloh den Armen des Jünglings und rannte ins Kloster zum Altar. Sie warf sich nieder, betete, flehte und weinte und schrie nach Vergebung. Doch es war zu spät. Die sich aufbäumenden Fluten verschlangen das Kloster und den kleinen Ort Glewe und die Glocken ertönten ein allerletztes Mal, bis auch sie in den Tiefen versanken.
Als sich der Sturm legte, der Erdboden wieder zur Ruhe kam, wurde es ganz still. Dort, wo einst Kloster und Glewe standen, befand sich nun ein See. Und so ist es bis heute. Nichts lässt mehr erahnen, wie es vorher einmal war. Es wird gesagt, dass Du am Johannistag, wenn Du Dein Ohr nahe dem Ufer auf den Boden legst, noch immer die Glocken des Klosters läuten hören kannst. Und unsere junge Nonne? Manch einer behauptet, er hätte sie gesehen, klagend und weinend. Doch halte Dein Mitgefühl zurück und gib acht, denn immer dann, wenn sie gesehen wurde, forderte der See ein Opfer, das darin bitterlich ertrank.

Die fromme Nonne - Plattdeutsch

Die fromme Nonne
Neustadt-Glewe

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