Neun Wölfe (Mecklenburgische Variante)

Einst lebte ein vornehmer Herr auf seinem Gute. Er war streng zu seinen Bauern und schaffte sich großen Wohlstand. Sein Haus war auf das Vortrefflichste ausgestattet und es ging ihm und seiner Familie gut. Er hatte eine gesunde Frau und diese schenkte ihm jedes Jahr einen kräftigen, gesunden Sohn. Neun Jahre hintereinander.
Jedes Jahr war eine Taufe im Haus und ein Fest wollte an Pracht und Fülle das vorherige übertreffen. Im neunten Jahr sollte alles noch schöner und ausschweifender sein, als in allen Jahren zuvor: Schweine und Gänse wurden geschlachtet, Hammel und Hühner und ein ganzer Ochse kam im Hof an den Spieß. Die Spielleute mussten schon am hellen Nachmittag aufspielen und waren für die ganze Nacht bestellt. Bier floss in Strömen und Wein und Saft. Die Zahl der Kutschen, mit denen die vornehmen Gäste aus der Umgebung gekommen waren, konnte keiner mehr übersehen. Der ganze Hof stand voll und die Ställe konnten die Pferde kaum fassen. Das Dienstgesinde musste flitzen, wie noch nie vorher. Und dabei achtete der Gutsherr immer darauf, dass seine Leute flink und fleißig schafften.
Es war Mitternacht und der Trubel auf seinem Höhepunkt. Die ersten Gäste lagen schon erschöpft vom guten Essen und Trinken auf den Bänken. Dennoch bogen sich die Tische unter den vollen Schüsseln. Da klopfte es ans Tor. Die Magd, die noch einen späten Gast vermutete, öffnete und sah im Schein der Laterne einen zerlumpten Bettler vor der Tür stehen. Er bat um ein bisschen Essen, denn er hätte schon einen weiten Weg hinter sich und noch einen längeren vor sich und seit dem vergangenen Tag noch nichts gegessen. Die Magd wollte ihm ein Stück Brot und Braten zustecken. Aber der Gutsherr war aufmerksam geworden und zum Tor gekommen:
„Was, du willst hier bei mir essen, ohne dass du für mich gearbeitet hast? Das kannst du vergessen!“ Und er jagte die Magd vom Tor weg und wollte es schließen. Da zog der Bettler eine Fiedel hervor und bot an, für die Gesellschaft auf zu spielen. Das war dem Gutsherrn recht. Die Musikanten waren schon recht lahm und müde. Der Bettler wurde also in den Festraum geführt und spielte. Er spielte aber so wild und heftig, dass es den Gästen und dem Gutsherrn unheimlich wurde und sie ihn wieder rausschmissen. Am Tor gab der Gutsherr ihm noch einen Tritt und höhnte: „Das soll dein Lohn sein!“
Am folgenden Tag formierte sich der festliche Zug zur Taufe. Prächtige Wagen reihten sich aneinander, aber der prächtigste war doch der Wagen des Gutsherrn an der Spitze, in dem er mit seiner Frau und seinen neun Söhnen saß. Da kam ein heftiger Wind auf mit Hagel. Als die Wagen auf dem Weg zur Kirche durch einen kleinen Wald mussten, stand dort der Bettler vom Abend zuvor und hielt sie auf: „Nun Herr, wollen wir abrechnen.“
In dem Augenblick verwandelten sich die neun Söhne in weiße Wölfe, selbst der noch ungetaufte Säugling, und sprangen mit Geheul in den Wald davon.
Groß war das Entsetzen und die Klage, aber niemand konnte etwas ändern.
Die Jahre vergingen. Der Gutsherr war in dumpfe Trauer versunken. Die Wirtschaft kümmerte vor sich hin. Da geschah das Wunder und die Frau gebar ihm wieder ein Kind. Diesmal aber eine Tochter. Diese wuchs zu einem wunderschönen Mädchen heran. Es war von großem Liebreiz und großer Freundlichkeit. Wo es erschien brachte es Fröhlichkeit und Schaffenskraft. Der Gutsherr liebte das Mädchen mit ganzem Herzen. Doch die Leute im Dorf erzählten ihm, dass es eigentlich neun Brüder gehabt hätte, die auf wundersam unglückliche Weise verschwunden seien. Das lies dem Mädchen keine Ruhe. Es fragte seine Mutter danach. Doch die unglückliche Frau mochte ihm keine Antwort geben. Seinen Vater zu fragen, hatte das Mädchen aber zu viel Respekt. Eines Abend aber konnte es durch den Türspalt hören, wie sich seine Eltern schmerzvoll über die verlorenen Söhne unterhielten:
Ach, wo mögen unsere Jungen wohl sein und wie mag es ihnen ergehen.
Ach Johann, Reimer, Claus und Franz,
ach Hartwig, Henrik, Paul und Hans.
Und Peter, unser jüngstes Glück!
Wer bringt die Söhne uns zurück?“
„Ach, uns ging es doch so gut. Hätten wir doch von unserem Wohlstand abgegeben. Was nutzt uns unser Wohlstand, haben wir doch unsere Söhne verloren. Wo mögen sie wohl sein? Wie mag es ihnen ergehen?“
Das Mädchen hatte von einer weisen Frau im Dorf erfahren, dass man die Verwandlung in Wölfe durch die Nennung der Namen rückgängig machen konnte. Nun wusste es genug. Es zog in den Wald hinaus um seine Brüder zu suchen. Eines Tages geriet es im finstersten Wald in einen heftigen Schneesturm. Es versank erschöpft im tiefen Schnee und die Wölfe heulten um es herum. Im Schneetreiben erblickte es weiße Wölfe mit glühenden roten Augen um sich herum. Da rief das Mädchen:
„Ach Johann, Reimer, Claus und Franz,
ach Hartwig, Henrik, Paul und Hans.
Und Peter muss dabei auch sein,
ich bin doch Euer Schwesterlein!“
Die Wölfe verhielten und verwandelten sich auf der Stelle in Menschen zurück. Sie wunderten sich, dass sie eine Schwester haben sollten und so musste das Mädchen wieder und wieder von seinen Eltern erzählen. Die Brüder erkannten Hof und Wirtschaft ihres früheren Lebens aus den Erzählungen und dankten für die wundersame Erlösung.
Da war die Freude groß und die Kinder zogen zusammen in das Elternhaus zurück. Nie mehr wurde ein Bettler ohne Speise von der Schwelle gewiesen und das Gut gedieh prächtig und zu aller Wohl.

Autorin: Dorothea Wende

Neun Wölfe (Mecklenburgische Variante) - Plattdeutsch

Neun Wölfe (Mecklenburgische Variante)
Rehna

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