Wie die Kinder flöten gingen

Auch in Gadebusch findet sich wie in Hameln die Sage vom Rattenfänger. Die Stadt, die seit 1225 lübisches Stadtrecht besitzt, liegt verkehrsgünstig im Straßenkreuz Wismar, Schwerin, Ratzeburg und Lübeck. Möglicherweise ist dadurch die Auswanderung von Ratten bzw. Kindern besonders glaubwürdig. Das Rathaus mit Gerichtslaube am Markt ist im Kern mittelalterlich, wurde aber durch Umbauten von 1618 geprägt.
Der Bürgermeister bestätigte einst im mittelalterlichen Gadebusch den Vertrag, dass der Rattenfänger für das Wegfangen aller Ratten eine bestimmte Summe Geld bekommen solle. Mit einer Flöte marschierte der Fänger vom Gadebuscher Markt ins südwestliche Jarmstorf Richtung Ratzeburg. Er kam an das Flüsschen Radegast, dass nach dem Hauptgott des Slawenstammes der Obodriten benannt ist, und das heute noch diesen Namen trägt. Hier lief er über einen Steg und ließ alle Ratten im Wasser ersaufen. Der Lohn aber wurde dem Rattenfänger vom Bürgermeister verweigert. Daraufhin drohte jener, er würde alle Kinder aus Gadebusch wegnehmen. Sofort holte er die Flöte heraus, pfiff, und alle Kinder der Stadt liefen dem Geprellten hinterher. Als sie schon beim Ausmarsch waren, kam der Bürgermeister doch noch und zahlte die vereinbarte Geldmenge. Daraufhin pfiff der Rattenfänger erneut und schickte die Kinder nach Hause.
Meist wird die aus Hameln bekannte Wandersage mit den Kinderkreuzzügen der Ostexpansion im Jahre 1212 in Zusammenhang gebracht. Damals zogen wohl allein aus deutschen Landen etwa 20 000 Kinder ins Mittelmeergebiet zum Heiligen Land, um das Christentum zu verbreiten. Die meisten starben auf dem langen Weg.
Verschiedene Faktoren sind, so die anerkannteste Theorie, bei der Entstehung dieser Sage zusammengekommen. Mit der Kolonisation des Ostens, also auch Mecklenburgs, durch Deutsche aus dem deutschen Kerngebiet im 12. und 13. Jahrhundert kamen „Kinder der Städte“, also Stadtbewohner, hierher. Vergleiche mit Ratten, die bei den üblichen Rattenplagen ebenso lästig wurden, drängten sich möglicherweise auf. Rattenfänger waren ohnehin im ganzen Lande unterwegs. Der liebliche Flötenklang sollte nach dem damaligen Volksglauben Mensch und Tier anlocken. Bei den schlechten hygienischen Bedingungen der Städte konnte man nur durch Zauberkraft Herr der Probleme werden.
Bis in die heutige Zeit kommt einem der Sparzwang der Bürgermeister vertraut vor, so dass die Sage nie an Aktualität verlor. Doch der erhobene Zeigefinger ist unübersehbar: Vertraglich erbrachte Leistungen sind bei Strafe des Untergangs sofort zu bezahlen.

Quelle: Dr Hartmut Schmied: Geister, Götter, Teufelssteine, Hinstorff Verlag

Wie die Kinder flöten gingen - Plattdeutsch

Wie die Kinder flöten gingen
Mühlen Eichsen

Text zum Lesen und Bild