Vom Alten mit der Holzlast

Am Weg zwischen den zwei Dörfern Weiß nicht wo und Überall gab es eine Lehmkuhle. So eine ganz normale Mergelgrube, wie es sie häufig in unserer Landschaft gibt. Der Weg führte daran vorbei, in der Kuhle standen Kopfweiden und die Kuhle, tief und ausgehöhlt, war dunkel und unheimlich. Es war Herbst, die kurzen Tage voller Regen und Sturm, der Boden aufgeweicht und schwer. Jeder war froh, rasch und ungestört seinen Weg zu erledigen: Der Bauer mit dem Gespann heimwärts zum Hof, das Mädchen mit der Kanne zur Nachbarin oder der Handwerker mit der Stiege vom Markt. Keiner ging ohne zwingenden Grund an solchen Tagen vor das Tor. Nahe der Kuhle brach an einem solchen Tage ein alter Mann zusammen. Er trug schwer an einer Last Brennholz. Er hatte sie fest auf die Schultern gebunden und nun drückte sie ihn zu Boden und hinderte ihn daran, aufzustehen. In seiner Not rief er die wenigen Vorübergehenden an, ihm zu helfen. Er bat sie, ihm das Holz abzubinden, damit er aufstehen könne. Die Leute hatten keine Zeit und sie sahen nur kurz und scheu hin zu dem Alten und er sah elend und schmutzig aus und sie erkannten ihn nicht. Sie fürchteten sich. Der Mann bat und flehte, die Leute hörten ihn nicht im Sausen des feuchten Herbstwindes. Er weinte und stöhnte, die Leute sahen ihn nicht in der heraufziehenden Dämmerung. Sie hatten die Köpfe tief gesenkt gegen den Regen und eilten schnell ihren Häusern zu. Er lag auf der schlammigen Erde und sein Gesicht war nass vom Regen und von den Tränen der Wut und der Verzweiflung. Die Kälte kroch durch seine dünne Kleidung und das Holz, das ihn hatte wärmen sollen in den kommenden kalten Winternächten, wärmte ihn nicht, schützte ihn auch nicht vor dem immer heftiger strömenden Regen. Die Leute, die vorüber gegangen waren, vergaßen den Alten in der Abendarbeit.
Am nächsten Morgen fand man den Alten tot, erstickt im Schlamm. Nun befreite man ihn von seiner Last und trug ihn ins nächste Dorf. Jetzt erkannten sie ihn auch, als man den Schlamm und die Tränen von seinem Gesicht wusch. Er war ihr Hirte, den sie im Winter ja nicht brauchten und der im Armenhaus wohnte. Er war schon alt und ohne Verwandte. Man begrub ihn nach Armenart und der Vorfall schien vergessen. Aber die Menschen sind verwundbar und unberechenbar ihr eigener Geist. Jedes Mal wenn einer, der von dem Vorfall wusste, an der Lehmkuhle vorüberging, dann trug er schwer an einer unsichtbaren Last. ,,Es hockt einem im Nacken, es greift mit kalter Hand ums Herz und würgt von hinten an der Kehle, als ob man weinen sollte“, so erzählten die Leute scheu. Aber nur die spürten den Geist, die von der Geschichte wussten; besonders aber die, die achtlos an dem Flehenden vorübergegangen waren. Wer nichts wusste oder gut vergessen konnte, der kam unbelastet den Weg entlang. Und mit der Zeit vergaßen immer mehr den Vorfall und so verschwand auch der Geist mit der Zeit.

Quelle: Dorothea Wende "So hätt' es können sein" Eine Auswahl von Märchen und Sagen aus Nordwestmecklenburg, Einblicke zwischen Schaalsee und Salzhaff 7, Gadebusch, Landkreis Nordwestmecklenburg (2001)

Vom Alten mit der Holzlast - Plattdeutsch

Vom Alten mit der Holzlast
Breesen

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